Wie Experten Heilbronns Klimaschutz-Pläne beurteilen

Interview: Christoph Donauer, Foto: Mario Berger (beide Heilbronner Stimme)

Die Professoren Ruth Fleuchaus und Roland Pfennig von der Hochschule Heilbronn führen die Scientists for Future in der Region. Wie sie sich eine klimaneutrale Stadt vorstellen und was bis dahin noch passieren muss, erklären Sie im Interview.

 

Richtet der Klimawandel in unserer Region bereits Schäden an?

Ruth Fleuchaus: Ja, schauen Sie sich etwa mein Themengebiet, den Weinbau, an. Heißere Sommer, unberechenbare Winter, wärmere Temperaturen im Frühjahr: Das bedeutet, dass die Reben früher austreiben. Die Eisheiligen im Mai gibt es aber immer noch, wodurch es zu Frühjahrsfrösten kommen kann. Ein Frostausfall bedeutet, dass sie ein ganzes Jahr Arbeit leisten müssen, ohne Ertrag. Das gefährdet Existenzen.

In der politischen Diskussion klingt es so, als sei der Klimawandel ein Problem, das weit in der Zukunft liegt.

Roland Pfennig: Der Mensch ist ein „Nahbereichstier“. Wir reagieren erst, wenn es uns unmittelbar selbst betrifft und existenziell wird – siehe Corona. Wir tun lieber erst mal nichts und warten ab, ob andere reagieren. Wir fühlen uns mit dieser komplexen Aufgabe überfordert. Ganz besonders diejenigen, die mit alten Geschäftsmodellen Geld verdienen. Wenn ich z.B. Rinder züchte oder Rohöl verkaufe, ärgert mich die ganze Diskussion und ich versuche, sie beiseitezuschieben.

Im Klimaschutz-Masterplan steht: Heilbronn will bis 2050 „nahezu klimaneutral“ werden. Inzwischen plant die Bundesregierung mit 2045.

Fleuchaus: Selbst das ist mir noch zu weit nach vorne gedacht. Wer kann so weit in die Zukunft blicken? Ich habe den Eindruck, dass solche langen Zeiträume die Menschen lähmen, kreative Ideen zu entwickeln und umzusetzen.

Wie meinen Sie das?

Fleuchaus: Es gibt viele Ideen und Konzepte. Das ist gut, aber sie müssen auch realisiert werden. Es fehlen konkrete Handlungen. Das muss sich ändern. 

Was genau stellen Sie sich vor?

Fleuchaus: Ein Beispiel: Ich wohne in einem relativ neuen Wohngebiet. Wir haben zwei Ladestationen für E-Autos am Haus beantragt. Eine wurde genehmigt, weil man Angst hat, dass bei zweien die Energieversorgung im Viertel zusammenbricht. Das Viertel ist zehn Jahre alt, man hätte damals schon weiterdenken können. Wann wir die Ladestation bekommen, steht in den Sternen. Seit einem dreiviertel Jahr läuft der Antrag. Die Kommunen sind nicht eingerichtet für die Umsetzung neuer, klimagerechter Konzepte.

Wie sieht das in Heilbronn aus?

Fleuchaus: Nun ja, wir sitzen hier am Bildungscampus. Lauter flache Dächer, aber keine Photovoltaik darauf. Das ist nicht nur hier so. Auch bei geplanten Projekten wird das nicht konsequent mitgedacht. Biodiversität ist ein anderes Thema; ich laufe hier über versiegelte Flächen. Wo sind die Blühwiesen? Das Bienensterben ist ein ziemlich ernstes Thema. Es wird bei neuen Siedlungsprojekten noch immer zu wenig über diese Themen nachgedacht. Dabei sind Klimawandel und Artensterben keine Themen der Zukunft sondern der Gegenwart. 

Der Klimaschutz-Masterplan zeigt auch: Viele Dachflächen in der Innenstadt sind gut oder sehr gut für Photovoltaik-Anlagen geeignet. Wieso sind dort trotzdem keine?

Fleuchaus: Gute Frage! Man sieht es auch im Neckarbogen, einem neuen Viertel. Wo sind dort die Klimaschutz-Projekte und die Solarzellen auf den Dächern? Das hätte man beim Bau mitdenken müssen.

Aber woran liegt das?

Pfennig: Ich stelle eine gewisse Lähmung fest. Die Kommunen sind auch unterbesetzt. Generell ist die Affinität zum Thema Klimaschutz noch nicht so ausgeprägt. Für viele ist das absolutes Neuland. Ich möchte aber auch den Klimaschutz-Masterplan nicht gleich verdammen!

Sondern?

Pfennig: Ich finde, für Heilbronn ist das ein engagiertes Papier. Jetzt kommt es darauf an, dass man dranbleibt und die nächsten Schritte angeht. Bis Ende des Jahres soll der Beirat gegründet werden. Der Beirat muss sich die Dinge kritisch angucken und Empfehlungen aussprechen. Man kann natürlich nicht alles auf einmal „durchgrünen“. Aber das, was man festgelegt hat, inklusive der Anpassung an 2045, muss nun zügig umgesetzt werden.

Der Masterplan muss auf 2045 angepasst werden?

Pfennig: Das ist für mich völlig klar. Und ich glaube, das ist auch den Verantwortlichen der Stadt klar.

Heilbronn will den Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 von 9 Tonnen auf 2 Tonnen reduzieren. Wie soll das gehen?

Pfennig: Heilbronn ist eigentlich eine Industriestadt. Wir leben maßgeblich von der Automobilindustrie und den Zulieferern. Das lässt sich von heute auf morgen nicht ändern. Und ich bin skeptisch, ob wir einen Pro-Kopf-Ausstoß von 2 Tonnen überhaupt jemals erreichen werden. 

Wofür dann der Masterplan?

Pfennig: Es ist enorm wichtig, dass man jetzt mal losgelaufen ist. Wenn man das, was darin steht, nicht zügig umsetzt, wird das Leben hier sehr unangenehm werden.

Die Wirtschaft ist gefühlt weiter als die Politik. Viele Unternehmen wollen zügig klimaneutral werden. Trügt der Schein?

Pfennig: Wir haben schon viele Gespräche mit wichtigen Industrievertretern geführt. Die, die viel Energie verbrauchen, haben verstanden, dass sie da ran müssen. Viele kommen auf uns zu und wollen über Forschungsprojekte und Abschlussarbeiten mit uns zusammenarbeiten.

Für manche Branchen ist das natürlich auch schwieriger oder?

Pfennig: Genau! Sehen Sie sich mal eine Reederei mit eigenen Schiffen an. Ein Schiff hat eine Lebensdauer von bis zu 60 Jahren. Da kann man nicht einfach eine Abwrackprämie ausloben, damit die alten Schiffe verschwinden. Wir benötigen neue, effiziente Antriebe, denn alte Dieselschiffe sorgen für erhebliche Emissionen. Aber wir brauchen sie, um mit multimodalen Verkehrskonzepten die Straßen zu entlasten. Insgesamt müssen wir über viele verschiedene Ansätze nachdenken.

Nehmen wir das Fahrrad. Es ist umweltfreundlicher als das Auto, Radwege gibt es aber viel zu wenige. Warum?

Pfennig: Heilbronn hat zum Radverkehr ein gespaltenes Verhältnis. Ich bin Radfahrer, das ist für mich der schnellste Weg durch die Stadt. Auch viele meiner Bekannten, die regelmäßig zur Arbeit oder zum Bahnhof fahren, berichten immer wieder, wie sie von Autofahrern fast überfahren worden sind. Es gab auch schon Unfälle mit schweren Verletzungen. Bei einigen Mitbürgern herrscht einfach noch ein Mindset, der zeigt, wo Heilbronn seine Wurzeln hat: beim Automobil.

Was bedeutet das?

Pfennig: Man hat Heilbronn so erschlossen, dass es fürs Auto optimal ist. Das sieht man leider auch an der Allee, obwohl diese erst vor wenigen Jahren neugestaltet wurde. Dieses Shared-Space-Konzept, das dort wohl dahinter stecken soll, erschließt sich mir nicht. Ich bin da vorhin fast von einem Lieferdienst angefahren worden. Das hätte man besser gestalten können.

Was sind die wichtigsten Maßnahmen für den Klimaschutz?

Pfennig: Die größten Emittenten sind die Energiewirtschaft und die Industrie. Dann kommen Verkehr und global gesehen die Landwirtschaft. Wir müssen also generell dekarbonisieren, über den Ausbau von regenerativer Energie nachdenken und in diesem Zusammenhang auch über Artenschutz reden, wir brauchen synthetische Treibstoffe, mit denen wir fossile Energieträger ersetzen können. Außerdem müssen wir unsere Lebensweise, unsere Ernährung und Mobilität, überdenken. 

Was noch?

Pfennig: All diese Angebote müssen natürlich bezahlbar sein. Für den Nahverkehr braucht es ein 365-Euro-Ticket. Dann muss aber das Angebot stimmen, ich muss mit Bus und Bahn dann von A nach B kommen, wann ich es brauche. 

Fleuchaus: Ich sehe viel Potenzial bei der Mobilität oder auch der Ernährungsweise. Die Landwirtschaft ist beispielsweise eine Emittenten Schleuder. Es gibt eine stetig größer werdende Zielgruppe veganer Ernährungsweise. Die Preise jedoch sind um ein vielfaches höher. Diesen Lebensstil muss man sich leisten können; Umwelt- und Klimaschutz hin oder her! Der Zug nach Berlin darf nicht doppelt so viel wie ein Flug kosten. Man muss sich nachhaltiges Reisen auch leisten können. Von selbst wird sich das nicht einpendeln, es sei denn, man verbietet Inlandsflüge, was nicht gehen wird.

Da sind wir wieder bei einem Verbot.

Pfennig: Naja, statt einem Verbot kann man auch die Alternativen so attraktiv wie möglich machen. 

Fleuchaus: Genau. Der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD) hat beispielsweise beschlossen, dass Studierende einen Zuschuss bekommen, wenn sie mit dem Zug ins Auslandssemester reisen. Solche Anreize braucht es viel häufiger.

Versetzen Sie sich ins Jahr 2045. Wie sieht eine klimaneutrale Stadt aus?

Fleuchaus: Das stelle ich mir sehr futuristisch vor. Dort fahren Hochbahnen und E-Autos, es gibt breite Fahrradstraßen. Die Energie muss aus erneuerbaren Quellen kommen. Natürlich gibt es sehr viel Grün und keine versiegelten Flächen mehr. In manchen Städten wird schon jetzt Fassadenbegrünung mit Gemüse getestet. Das kühlt und bindet CO2. In Dubai fliegt jetzt schon ein autonomes Lufttaxi vom Flughafen in die City.

Pfennig: Die Stadt gehört wieder den Menschen und es gibt definitiv keine Verbrenner mehr. Intelligente Verkehrsleitsysteme und autonome Shuttles übernehmen Parkplatzsuche, Paketzustellung und die Entsorgungslogistik. Eine klimaneutrale Stadt ist also leise. Mehrwegsysteme haben den Fastfoodmüll vollständig verbannt. Es wird flächig Photovoltaikanlagen geben, auf vielen Dächern und an Fassaden.