Adolf Cluss, der Deutsch-Amerikanische Architekt Washingtons

Text: Kathrin Stärk, Foto: adolf-cluss.de

Vom revolutionären Turner zum republikanischen Städtebauer

Als junger Mann zählte Adolf Cluss, Spross der Heilbronner Baumeister- und Industriellenfamilie, zum radikalen, frühsozialistischen Flügel der Turnbewegung. Er emigrierte 1848 in die USA, wo er die internationale kommunistische Arbeiterbewegung mitbegründete und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zu einem der bedeutendsten Architekten Washingtons avancierte.

Cluss’ Beiname „der rote Architekt“ war jedoch nicht nur auf seine politischen Neigungen gemünzt, sondern auch auf sein bevorzugtes Baumaterial: roter Backstein. Ein Streifzug vom Vormärz der deutschen Revolution über den amerikanischen Bürgerkrieg mitten ins Herz der US-amerikanischen Hauptstadt Washington.

Hört man hierzulande den Namen Cluss, denkt man unwillkürlich an die Heilbronner Brauerei. Selbst das Stadtarchiv Heilbronn erinnert auf seiner Webseite zunächst an den Werbespruch „Und zum Schluss, noch ein Cluss“ (Link). Ganz falsch ist diese Eingebung nicht, immerhin gründete Adolfs jüngerer Halbbruder August die Brauerei Cluss, die bis 1982 in Heilbronn bestand.

Adolf verließ seine Heimatstadt 1844, um als Zimmermannsgeselle auf die Walz zu gehen und arbeitete ab 1846 als Architekt in Mainz, wo er Mitglied im dortigen Turnverein und im Bund der Kommunisten wurde. In dieser Zeit, dem Vormärz der Revolution von 1848, sind die Geschichte Deutschlands (als imaginierte Gemeinschaft) und die Geschichte des Turnens (als körperliche Praxis) eng miteinander verwoben. Und mittendrin: der 1825 geborene Adolf Cluss. 

Sein 100. Todestag wurde 2005 in Deutschland und den USA mit einem deutsch-amerikanischen Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt in Washington D. C. und Heilbronn zelebriert. Ein international besetztes Symposium unter dem Titel „Adolf Cluss und die Turnbewegung – vom Heilbronner Turnfest 1846 ins amerikanische Exil“ beschäftige sich mit der frühen Turnbewegung in Deutschland und den USA aus unterschiedlichen Perspektiven und spannte den Bogen vom Turnfest 1846 zum Schicksal der emigrierten Turner in den USA. In einem Sammelband erschienen die neun Vorträge in gedruckter Form [Link]. Noch kurz vor seinem Tod erinnerte sich Adolf Cluss in einem Brief voller Begeisterung an das Heilbronner Turnfest: Als zweiter Architekt im „Bureau der hessischen Ludwigs-Bahn in Mainz“ habe er 28 Mainzer Turner ermuntert, daran teilzunehmen, erinnert er sich: „Meine Eltern luden die ganze Sippschaft ein, zu uns zu kommen, und zur Zeit unser großes Haus als das ihrige zu betrachten.“ 1.200 Teilnehmende aus 32 Vereinen kamen aus dem gesamten süd- und mitteldeutschen Raum. Das Fest war mehr als ein sportliches Event, – es war auch hochpolitisch: Die jungen Turner diskutierten – unter den besorgten Augen der Obrigkeit und der Polizei – öffentlich politische Fragen.

Schon 1846 wurde das Turnfest als Vorläufer der Olympischen Spiele betrachtet und gilt heute als ein Vorbild für die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit im Jahr 1894. Cluss war jedoch kein Freund dieser Idee und nannte den deutschen Dichter Carl Heinrich Schnauffer – ebenfalls ein begeisterter Turner – der „aus den Turnfesten Olympische Spiele machen“ wollte einen „Esel“.

So wie für Cluss Architektur „der materielle Ausdruck der Wünsche, Möglichkeiten und Gefühle eines Zeitalters“ war, so war das Turnen für ihn weit mehr als nur körperliche Ertüchtigung und das Heilbronner Turnfest lebensprägend. Er gehörte 1848 zu den Gründern des Mainzer Arbeiterbildungsvereins und in Brüssel kam er mit Karl Marx in Kontakt, mit dem er mehr als zehn Jahre in Briefkontakt stand. Im Sommer 1848 verließ Cluss Deutschland und landete am 15. September mit dem Auswandererschiff Zürich in New York. Dort arbeitete er zunächst als Technischer Zeichner beim US-Küstenvermessungsamt.

Er hielt seine Verbindungen zur kommunistischen Bewegung auch nach der Emigration aufrecht und galt einige Zeit als deren Anführer in den USA. Friedrich Engels bezeichnete ihn sogar als „einen unschätzbaren Agenten“. In einem Artikel für die Washington Post vom 17. September 2005 (https://www.washingtonpost.com/archive/lifestyle/2005/09/17/red-architect-adolf-cluss-a-study-in-sturdy/23fa3318-a43e-496f-8672-721f57cbe9f6/) geht Benjamin Forgey auf Cluss’ Freundschaft zu Karl Marx ein. Für den Journalisten scheint der Wandel vom glühenden Revolutionär zum erfolgreichen amerikanischen Republikaner unvermeidlich: „Zum einen kann es für einen kommunistischen Agenten im Washington der 1850er-Jahre nicht viel zu tun gegeben haben. Zum anderen steuerten die Vereinigten Staaten […] auf ihre eigene, ganz andere Art von Umwälzung zu – einen verheerenden Bürgerkrieg.“

Ob ihn in diesen turbulenten Zeiten auch Heimweh plagte, ist nicht überliefert. Cluss war jedoch immer an Berichten aus seiner Heimatstadt interessiert. Doch wie schon das Heilbronner Intelligenzblatt zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb: „Heimweh ist dem Heilbronner eine unbekannte Krankheit […]. Der Heilbronnische Cosmopolitismus ließ sich von jeher nicht in den reichsstädtischen Bocksbeutel einzwängen.“ Zu finden ist dieses Zitat auf der Webseite www.adolf-cluss.de, die auch Inhalte der Jubiläumsausstellung des Jahres 2005 versammelt.

1855 erhielt Cluss die US-Staatsbürgerschaft, sympathisierte mit der Abschaffung der Sklaverei und war bis 1863 an der Konstruktion von Kanonen für die Marine beteiligt. 1864 eröffnete er sein Architekturbüro mit Joseph von Kammerhueber und übernahm erfolgreich Aufträge zu öffentlichen Bauten. 1858 brach er den Kontakt zu Marx ab und trat in die Republikanische Partei ein. Trotzdem warf er seine Ideale nicht völlig über Bord: Er glaubte fest an die Verantwortung der Architekten für das Gemeinwohl zu bauen. Das belegen zahlreiche öffentliche Projekte und sein Engagement am Bau öffentlicher Schulen. Nach dem Bürgerkrieg wurde er zum herausragenden Gestalter Washingtons, denn die wachsende Stadt brauchte dringend Gebäude, und das Angebot an einheimischen Architekten und Ingenieuren war begrenzt.

Das Washington jener Tage hat nichts mit der Hauptstadt der heutigen USA zu tun. Cluss selbst schreibt 1852: „Mir wäre es am Ende auch erwünscht, wenn ich mein lumpiges Nest Washington loswerden könnte …“ Zeitgenossen beschreiben den Kanal als offene Kloake und Jauchegrube, Auffangbecken für alle Arten von Widerlichkeiten, Pestbrutstätte und Schandmal der Stadt. Washington sah damals aus wie ein großes, lang ausgestrecktes Dorf mit zerstreuten Häusergruppen, die nur von einigen öffentlichen Gebäuden überragt wurden.

Damit aus der schlecht ausgestatteten Kleinstadt eine Metropole werden konnte, baute Cluss Museen, Kirchen, Schulen, Märkte, Bürogebäude des Bundes, Wohnhäuser, Reihenhäuser und sogar einige luxuriöse Privathäuser. Er war auch an der umfassenden und notwendigen Überholung der Infrastruktur der Stadt in den 1870er-Jahren beteiligt. Als er 1890 im Alter von 65 Jahren seine aktive Tätigkeit beendete, stammte die Mehrzahl der öffentlichen Gebäude der amerikanischen Hauptstadt von ihm.

Seine Verdienste in Washington würdigte Professor Richard Longstreth im Jubiläumsjahr 2005 wie folgt: „Als Baumeister konnte Adolf Cluss beneidenswerte Leistungen aufweisen. Wenige andere Architekten hatten einen vergleichbaren, und keiner hatte einen größeren Einfluss auf die Gestaltung der Stadt Washington.” Wie kein anderer prägte Cluss das Erscheinungsbild von Washington als Bundeshauptstadt. Zu den von ihm errichteten öffentlichen Gebäuden gehört auch das Landwirtschaftsministerium, über das sein Erbauer sagte: „Der Stil ist an die französische Renaissance mit Mansardendach angelehnt. Die Gewächshäuser haben einen leicht maurischen Einschlag.“

Cluss & Schulze entwarfen unter anderem das erste Nationalmuseum der Vereinigten Staaten. Das Arts and Industries Building der Smithsonian Institution wurde von 1879 bis 1881 an der National Mall in Washington errichtet. Einen Namen machte sich Cluss aber als Innovator in der Gestaltung öffentlicher Schulen – national und international. Seine Konzepte galten als revolutionär: mehrstöckige Gebäude mit mehreren Klassenräumen, hohe Decken, viel Licht, Heizungs- und Lüftungssysteme und eine robuste feuerfeste Konstruktion. Die Schulhäuser aus rotem Backstein waren bis weit ins 20. Jahrhundert prägend.

Modern an seiner Architektur war die Idee, Gebäude von innen nach außen zu entwerfen. Der Nutzen war ihm wichtiger als der Stil. Die großen Räume, hohen Fenster und viel Holz sollten eine gute Lernatmosphäre schaffen. Ein Beispiel ist die Franklin School aus dem Jahr 1869, die schon damals von Philadelphia bis Wien gelobt wurde. Das Gebäude steht heute noch in Washington D. C. an der südöstlichen Ecke von 13th und K Street NW. In den 2000ern bot es Obdachlosen eine Unterkunft, heute beherbergt es das Planet World Museum.

Doch der Journalist Forgey gibt zu Bedenken: „Kaum zehn Prozent der markanten Gebäude, die Cluss hier zwischen den 1860er- und 1890er-Jahren entwarf, stehen noch – und zwei der verbleibenden sieben Bauwerke stehen vor einer ungewissen Zukunft. Diese beiden, das Arts and Industries Building an der Mall und die Franklin School im Stadtzentrum, gehören zu seinen besten Bauten, aber eine so traurige Bilanz des Erhalts stellt kaum ein Vertrauensvotum dar.”

Adolf Cluss hätte das vielleicht nicht so dramatisch gesehen, wie ein spätes, träumerisches Zitat des gebürtigen Heilbronners aus dem Jahr 1905 vermuten lässt: „Es stimmt mich immer wehmütig, dass Vater und Mutter, Christine und Mine, alle Geschwister ausgenommen Pauline und ich schon längst den Staub von Mutter Erde abgeschüttelt haben. Die Jahre im hohen Alter sind eben mehr poetisch schön, als man gewohnt ist, anzunehmen.“