Schwarmstadt? Heilbronn (noch) nicht.

Text: Joshua Kocher, Fotos: Meli Dikta, Illustrationen: Isabelle Hagner

Schwarmstadt? Heilbronn (noch) nicht.

Sie wollen Heilbronn wieder auf die Landkarte bringen, als Ort für Kreative, für lässige Bars, für Jüngere: Yvonne Zajontz und Robert Mucha. Ihre Leidenschaft für die Stadt haben sie jetzt wissenschaftlich untermauert, mit ihrem Buch: »Heilbronn auf dem Weg zur Schwarmstadt? Eine Perspektivenbetrachtung im Kontext der Stadtentwicklung«. Das deutschlandweit erste Buch zum Thema »Schwarmstadt« zeigt: Kultur und Kreativität können Städte ungemein attraktiver machen — auch Heilbronn.

Sie schwamm und er kickte — so lernten sich Yvonne Zajontz und Robert Mucha kennen, damals in den 90ern. Auf Wettkämpfen in den Partnerstädten von Heilbronn trafen sie sich immer wieder, er für den VfR Heilbronn mit dabei, sie für den SSG Heilbronn. Irgendwann kannten sie sich eben, freundeten sich an und zogen umher nach den Wettkämpfen.

Es war eine andere Zeit damals, klar. »Da ging was in Heilbronn«, sagt Robert Mucha. Er erinnert sich an legendäre Nächte im Undergroundclub OM, wo Grufties neben Fans der neuen elektronischen Sounds tanzten. »Uns konnte keiner das Wasser reichen«, sagt er. »Weder beim Feiern, Kicken oder bezüglich der subkulturellen Lebendigkeit.«

Das waren die 90er. Stolze Heilbronner seien sie gewesen, sagt Robert Mucha. Doch dann sind sie weggezogen, alle beide. Er nach Leipzig, später nach Berlin, Yvonne Zajontz nach Trier, dann nach Frankfurt. Die Studiengänge, die sie studieren wollten, gab es in Heilbronn nicht. Und in der Ferne merkten sie erst, was sie in Heilbronn nicht hatten.

Hier beginnt die Geschichte, die in diesem Jahr 2021 ihren vorläufigen Höhepunkt hat. Denn 25 Jahre nach ihrem Wegzug bringen die beiden gemeinsam ein Buch heraus, das auch auf ihren eigenen Erfahrungen basiert.

»Heilbronn auf dem Weg zur Schwarmstadt? Eine Perspektivenbetrachtung im Kontext der Stadtentwicklung« ist das deutschlandweit erste Buchwerk zum Thema »Schwarmstadt«. Es richtet sich an Wissenschaftler*innen, an Studierende und an Expert*innen aus der städtischen Praxis.

Was muss sich in Heilbronn ändern, damit junge Leute wie sie, damals in den 90ern, nicht in Scharen aus der Stadt verschwinden? Das fragten sich Yvonne Zajontz (42) und Robert Mucha (43), als sie beide Anfang der 2010er Jahre wieder in ihre Heimatstadt zurückkehrten; Mucha als Gründer des Gesellschaftsmagazins »Hanix«, Yvonne Zajontz als Professorin und Studiengangsleiterin für Media, Vertrieb und Kommunikation an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Heilbronn. 

Denn ihre Geschichte ist kein Einzelfall, auch heute nicht. 2017 meldete die »Heilbronner Stimme«, dass pro Jahr ungefähr 2000 Schulabsolventen die Stadt verlassen. Und, dass die Stadt für viele Referendare nur eine Durchgangsstation sei.

Einiges hat sich ja getan in der Zwischenzeit. Vor allem in den vergangenen Jahren hat die Stadt den Turbo eingelegt. Dank der Dieter Schwarz Stiftung steht in Heilbronn der Bildungscampus. Seit 2020 prangt das Wort »Universitätsstadt« auf den Ortsschildern. Die Bundesgartenschau machte Halt in der Stadt und sorgte für einen Boom, jäh ausgebremst nur durch die Corona-Pandemie. Die Neckarmeile rückte den Fluss mehr ins Bewusstsein der Bürger*innen. Die Stadt entwickelt sich weiter — von der Industriestadt zur Wissensstadt.

Doch es fehlt etwas. Atmosphäre, alternative Bars, akademischer Geist, sagt Robert Mucha. Eine volle Fußgängerzone, Events auch im Winter, kleine individuelle Boutiquen, sagt Yvonne Zajontz

In Heilbronn sei es schwer, den ohnehin nur schwer greifbaren Geist einer Stadt auszumachen. Die Identität. Das unvergleichliche Gefühl, das man in Freiburg, in Münster, in Berlin-Kreuzberg spürt. Das eine Stadt zur sogenannten Schwarmstadt macht, einer Stadt, die mit hoher Lebensqualität assoziiert wird und die vor allem junge Leute — in Schwärmen  — anzieht. 40 solcher Städte soll es in Deutschland geben, darunter Leipzig, Frankfurt und München. Auch Karlsruhe, Stuttgart, und Heidelberg sind dabei.

Heilbronn (noch) nicht.

Positiver Wandel: Im vergleich zu 2017 würden drei ahre später deutlich mehr Heilbronner einen touristischen Besuch in ihrer Stadt empfehlen

Das soll sich ändern, finden Yvonne Zajontz und Robert Mucha.  Sie wollen, dass Heilbronn keine Zwischenstation mehr ist, sondern eine echte Perspektive. 

Darum haben die beiden 2017 den ersten Aufschlag einer wissenschaftlichen Studie gewagt, die genau erforschen soll, was den Heilbronner Bürger*innen (im Alter von 26 bis 46 Jahren) fehlt. Sie haben mehr als 1000 Online-Fragebögen ausgewertet und der Stadt repräsentativ erhobene Noten gegeben. Für die Lebensqualität in der Stadt, den Einzelhandel, die Individualität von Cafés und Kneipen. 2020, nach der Bundesgartenschau, wiederholten sie das Projekt. Doch die Endnote blieb die gleiche wie 2017: 3,2. Durchschnitt. Das bestätigte ihren bis dato subjektiven Eindruck. 

Es sind nicht die sogenannten harten Standortfaktoren, die kritisiert werden: Arbeitsplätze, Wohnraum, Kita-Plätze. Verbesserungsbedarf sehen die Bürger*innen eher bei den weichen Standortfaktoren. Sie kritisieren die Atmosphäre in der Fußgängerzone, das Radwegenetz, das Stadtbild. Sie wünschen sich individuelle Geschäfte, alternative Kneipen und Gaststätten, eine ordentliche Nachtbus-Verbindung, ein belebtes Studierendenviertel, ein pulsierendes Nachtleben.

Diese Kritik wollen Zajontz und Mucha in erster Linie als Antrieb verstehen. Deshalb haben sie ihre Erfahrung aus fünf Jahren Schwarmstadt-Forschung in einem Buch zusammengetragen, unterstützt von 20 Expert*innen aus der Stadt. »Heilbronn auf dem Weg zur Schwarmstadt? Eine Perspektivenbetrachtung im Kontext der Stadtentwicklung« ist das deutschlandweit erste Buchwerk zum Thema »Schwarmstadt«. Es richtet sich an Wissenschaftler*innen, an Studierende und an Expert*innen aus der städtischen Praxis. Das Buch versucht die Sogwirkung solcher Städte zu ergründen — und gleichzeitig Perspektiven aufzuzeigen, wie Heilbronn diese entfalten kann.

Heilbron: Stadt mit Potenzial zur Schwarmstadt

Zu Wort kommt unter anderem Thomas Aurich, Gemeinderat, Gastronomie-Sachverständiger der IHK und Gastronom. Er sieht die Gastronomie als Shootingstar der Stadtentwicklung und fordert dazu auf, Wirtinnen und Wirte mit in die Stadtentwicklung einzubeziehen.

Daniel Schütt vom Freien Kulturzentrum Maschinenfabrik Heilbronn schreibt, es sei wichtig für die Entwicklung zur Schwarmstadt, dass Angebote der Gegenwartskultur ausgebaut werden. »Eine ausgewogene Kulturlandschaft macht jede Stadt lebenswerter und entsteht, wenn sich alle Bevölkerungsgruppen vom vorgefundenen Kulturangebot angesprochen fühlen.«

Oliver Hanisch, Unternehmer, Business Angel und CEO der Campus Founders, findet in Heilbronn optimale Voraussetzungen für eine Startup-Kultur, die junge Leute anziehe. Er will Gründungswillige nicht nur herlocken, sondern sie auch zum Bleiben motivieren, — damit sich der neue Unternehmergeist in Heilbronn mehr und mehr verbreiten kann.

Eine humorvolle und doch spannende Zukunftsvision für ein Heilbronn zu Beginn der 2030er-Jahre wagt Robert Mucha. Er zeichnet ein Bild der Stadt mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die das Thema Künstliche Intelligenz (KI) und KI-Forschung als Schwerpunktthema haben. Mit einem »Citycenter des Wissens« im Wollhaus-Zentrum und einem »HNCITY-Fonds«, der Unternehmern und Kulturakteuren ermöglicht, ihre Ideen umzusetzen.

Yvonne Zajontz versucht, ganz grundlegend, eine Erklärung für das Phänomen einer Schwarmstadt zu finden. Was sie bei all diesen Städten gemeinsam ausmacht, ist ein gutes Hochschulangebot. Aber auch, und das ist vielleicht am wichtigsten, ein Image, das weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Sie wünscht sich, dass alle relevanten Akteur*innen im Rahmen einer integrierten Stadtentwicklung die Alleinstellungsmerkmale von Heilbronn ausfindig machen, die DNA der Stadt. Und diese dann effektiv vermarkten. Heilbronn muss seine Stärken und Werte, aber auch Schwächen finden — und diese dann klar betonen.

Eines steht fest: Heilbronn gehört zu den dynamischsten Städten Deutschlands — und könnte eine der nächsten Schwarmstädte werden. Eine große Chance liegt dabei in der kulturellen und kreativen Stadtentwicklung. Vorausgesetzt, dass alle Bürger*innen mitgenommen werden, findet Yvonne Zajontz. Heilbronn muss es schaffen, ein positives Image auch nach Außen zu transportieren.

Im »Verein für Zukunftsvisionen Heilbronn« wollen Yvonne Zajontz und Robert Mucha ihr Engagement vorantreiben und bündeln. Anlass der Gründung war 2013 ein Projekt, möglichst viele Schüler*innen, Auszubildende, Studierende oder junge Berufstätige aus Heilbronn zu motivieren, sich Gedanken über die Zukunft ihrer Stadt zu machen. Das soll jetzt intensiviert werden — und Heilbronn zurück auf die Landkarte kommen, so wie in den 90ern.

Einen Wunsch hat Yvonne Zajontz: In fünf Jahren will sie die Studie noch einmal durchführen — Heilbronn soll dann eine Note von 2,0 oder besser bekommen. Und Robert Mucha wünscht sich, dass seine Zukunftsvision keine Utopie ist. Die beiden werden auch weiter daran arbeiten.