„Frauen brauchen keine Sonderbehandlung“: Professorin Marsden über weibliche Teilhabe

Nicola Marsden leitet das Heilbronner Reallabor des EU-Projekts GILL. Ziel des Projekts ist mehr Teilhabe von Frauen in verschiedensten Bereichen. Warum gerade Frauen und wie geht das überhaupt?

Von Laura Bernert Foto: Christiana Kunz

Beim EU-Projekt Gendered Innovation Living Lab, kurz GILL, werden praktische Lösungen für mehr Teilhabe von Frauen erprobt. An dem Projekt sind europaweit 17 Partner mit 15 Reallaboren beteiligt. Eines davon ist in Heilbronn. Professorin Nicola Marsden, die Leiterin des Reallabors in Heilbronn und Mitglied der wissenschaftlichen Gesamtprojektleitung, spricht über das Projekt und den Vorteil von diversen Teams.

Frau Marsden, Sie sind am Projekt GILL beteiligt. Was kann man sich darunter vorstellen?

Nicola Marsden: Dazu muss ich etwas ausholen: Innovationen dienen manchen Menschen besser als anderen. Ein typisches Beispiel sind Crashtest-Dummys, die an Männerkörpern orientiert sind. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit für Frauen, bei einem Unfall schwere Verletzungen davonzutragen, größer als bei Männern. Um das zu verändern, müssen Frauen in Daten und Organisationen repräsentiert werden, und die Strukturen in Institutionen müssen sich ändern. Aber man kann nicht einfach sagen: “Passt auf, es gibt Stereotype, und ihr dürft sie nicht anwenden.” Damit weiß ich noch nicht, was ich in meinem Alltag machen soll. Darauf bauen wir auf. Living Labs ist eine nutzerzentrierte Herangehensweise und entwickelt mit Betroffenen in einer realen Lebenssituation neue Konzepte.

Wie können Unternehmen diese Veränderungen anstoßen?

Marsden: Man kann nicht nur an einer einzigen Stelle ansetzen. Man könnte sagen: “Wir brauchen erst fünfzig Prozent Frauen.” Das Problem: Diese Frauen erleben in den Organisationen Diskriminierung und gehen deshalb wieder, wenn sich nicht gleichzeitig etwas in der Organisation ändert. Das ist ein Kreislauf.

Ziel des Projekts ist also mehr Teilhabe von Frauen?

Marsden: Das Ziel ist ganz umfassend. Das Potenzial von Frauen ist da, wird aber aktuell noch nicht ausgeschöpft. Weil sie Diskriminierung erleben, es den Gender-Pay-Gap – also die Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern – gibt, Frauen in Teams nicht gehört werden. Der Fokus liegt auf Frauen, weil das die größte unterrepräsentierte Gruppe ist. Geschlecht muss im Zusammenhang mit anderen Diskriminierungsdimensionen wie Migration oder Alter betrachtet werden.

Was passiert in einem Reallabor?

Marsden: Wir gehen in echte Teams, die im weitesten Sinne im Bereich der Digitalisierung und IT tätig sind. In diesen Teams stellen wir die entwickelten Methoden vor, die an die Anforderungen angepasst werden. Gemeinsam setzen wir sie um und evaluieren, was gut funktioniert hat. Nach dem Projekt soll eine Plattform mit Anleitungen und den Fallstudien zu den Werkzeugen allen zur Verfügung zu stehen. Bei uns in Heilbronn liegt der Schwerpunkt auf Frauen in Organisationen. Wir wollen zeigen, wie Teams von Diversität profitieren. Diverse Teams können kreativer und innovationsfähiger sein. Zudem kann es schöner sein, in solchen Teams zu arbeiten.

Können davon auch andere Gruppen profitieren?

Marsden: Das ist ein wichtiger Punkt. Frauen brauchen keine Sonderbehandlung. Sie wollen, wie alle anderen auch, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird und sie sich einbringen können. Das Problem ist, dass Männer das oft erleben, Frauen in derselben Organisation aber nicht. Von den Praktiken, die es braucht, um das Geschlecht als Thema zu überwinden, profitieren letztlich alle.

Eigentlich sollte es egal sein, welches Geschlecht eine Person hat, oder?

Marsden: Es ist ein Dilemma. Wir alle haben Verzerrungen in den Wahrnehmungen und sehen zum Beispiel IT-Kompetenzen eher bei Männern. Also müssen wir Frauen sichtbar machen. Das ist eine Gratwanderung.

Wie sind die Gruppen aufgestellt, die am Projekt teilnehmen? Gibt es Männergruppen, die sagen: Wir wollen diverser sein?

Marsden: Ja, durchaus. Was alle Teams gemeinsam haben, ist ernsthaftes Interesse. Wenn es in der Region weitere Interessenten für das Projekt gibt, können wir sie noch aufnehmen.

Zur Person

Nicola Marsden wuchs in Düsseldorf auf. Im Saarland und den USA studierte sie Psychologie und setzte ihren Schwerpunkt in Sozialpsychologie. Anfang der 1990er-Jahre begleitete sie als selbständige Unternehmensberaterin die Einführungen von Computern an Arbeitsplätzen. Seit 20 Jahren arbeitet Marsden an der Hochschule Heilbronn. Dort hat sie die Forschungsprofessur für Sozioinformatik inne.

Mit freundlicher Genehmigung der Stimme Mediengruppe & der Heilronner Stimme