Wir trafen am Tag, als die Entscheidung für den KI-Innovationspark des Landes auf Heilbronn fiel, einen gut gelaunten Oberbürgermeister. Mit Harry Mergel sprachen wir u. a. über den Irrsinn, den er als junger Referendar betrieben hat, die historische Bedeutung des zukünftigen KI-Innovationsparks für die Stadt und wir haben Harry Mergel gefragt, wann eine KI erstmals die Oberbürgermeisterwahl in Heilbronn gewinnen wird.
Interview: Robert Mucha; Fotos: Nico Kurth
wissensstadt.hn: Herr Oberbürgermeister Mergel, Sie haben, dass wissen viele Heilbronner*innen, ein Lehramtsstudium absolviert.
Harry Mergel: Ich habe – und das wissen vielleicht nicht so viele Heilbronner*innen – zwei Studiengänge abgeschlossen. Beide in unserer Landeshauptstadt Stuttgart. Ich bin Diplom-Verwaltungswirt und ich habe Wirtschaftswissenschaften und Geschichte fürs Lehramt studiert.
wissensstadt.hn: Wären Sie heute Abiturient in Heilbronn würden Sie immer noch in die damals gewählte Richtung einschlagen oder wären Sie bei dem aktuellen Studienangebot in Heilbronn auf dem Bildungscampus vielleicht BWL-er oder Programmierer geworden?
Harry Mergel: Die Tatsache, dass ich Lehrer werden wollte, ist den Lehrer*innen, die ich als Schüler hatte, geschuldet. Ich hatte während meiner Schulzeit Lehrer*innen – gerade in Phasen der Rebellion –, die sehr wichtig und prägend für mich waren. Pädagoge zu werden, war also früh mein Wunsch. Meine Stärken lagen aber weniger in den Naturwissenschaften und der Mathematik, sondern tatsächlich eher in Geschichte, Gemeinschaftskunde und den Sprachen. Wer weiß, wie es sich entwickelt hätte, wenn es damals schon die experimenta gegeben hätte. Möglicherweise wären noch andere Talente entdeckt oder Interessen bei mir geweckt worden.

Heilbronns OB Harry Mergel hat gut lachen: der KI-Innovationspark des Landes kommt in die Stadt
wissensstadt.hn: Sind Sie als Student in die Landeshauptstadt gezogen oder zwischen Heilbronn und Stuttgart gependelt?
Harry Mergel: Eine meiner Jugendsünden, ich war Pendler …
wissensstadt.hn: … und Heimschläfer
Harry Mergel: Ich habe schon immer gelitten, wenn über Heilbronn gelächelt oder gelästert wurde. Das hier nichts los sei oder Ähnliches. Ich wollte den Gegenbeweis antreten. Deshalb haben Mitte der 80er Freunde und ich auch das Gaffenberg Festival entwickelt, das wirklich Kultstatus erlangte. Ich hatte – auch durchs Fußballspielen – viel in Heilbronn zu tun.
wissensstadt.hn: Ihr Referendariat hielten Sie am Walther-Eucken-Gymnasium in Freiburg ab. Auch hierhin sind Sie täglich von Heilbronn gependelt. Mit Verlaub …
Harry Mergel: … das ist aus heutiger Sicht völliger Irrsinn – 450 Kilometer täglich. Das ging ein Jahr lang so. Aber aus Freiburg und dem sozio-kulturellen Leben und Angebot habe ich durchaus Impulse für das Gaffenberg Festival nach Heilbronn mitgebracht. Dort gab es z. B. ein relativ großes Kleinkunst- und Musikfestival – das Zelt-Musik-Festival – das mich sehr beeindruckt hat. Und in Heilbronn musste unser Gaffenberg Festival organisiert werden. Also bin ich gependelt.
wissensstadt.hn: Wie sahen zu ihrer Studentenzeit die kulturellen und Freizeitangebote in Heilbronn aus? War etwas für ihre Generation geboten?
Harry Mergel: Ich habe Heilbronn immer so genommen, wie es ist, und gleichzeitig das Potenzial der Stadt vor Augen gehabt. Anfang, Mitte der 80er gab es in Sontheim die FH für Ingenieure. Viele Studenten kamen aus der Region, die nach der Vorlesung wieder nach Hause in ihr Elternhaus im Landkreis gefahren sind. Da hat sich studentisches Leben in Heilbronn nicht so entwickelt, wie man es vielleicht aus Heidelberg oder Tübingen kennt. Auch die Gastroszene in Heilbronn, die heute zu den kreativsten Wirtschaftszweigen hier gehört, war damals unterentwickelt. Heute hat sie eine ganz entscheidende Rolle in der Stadt, wenn es um atmosphärische und zeitgemäße Angebote für junge und urbane Menschen geht.

Der OB und sein Arbeitsplatz
wissensstadt.hn: Haben Sie ihr Studium durchgezogen oder haben Sie sich Zeit gelassen, bis zu den Abschlüssen?
Harry Mergel: Da ich auf Diplom und auf Lehramt studiert habe, waren es insgesamt acht Jahre. Beide habe ich aber in der Regelstudienzeit absolviert.
wissensstadt.hn: Dann wären die heutigen, straffer organisierten Bachelor- und Master-Studiengänge auch etwas für Sie gewesen?
Harry Mergel: Ich habe in meiner Studienzeit durchaus umfangreicher als nur in meinen Fächern studiert, Vorlesungen anderer Fachbereiche besucht und das studentische Leben genossen. Wenn ich aber rückblickend sehe, wie viel Zeit ich neben dem Studium noch in das Gaffenberg Festival oder den Fußball investiert habe, frage ich mich schon, wie ich das organisiert habe.
wissensstadt.hn: Heute gibt es durch das Internet, Smartphones und Soziale Medien, die ständig nach Aufmerksamkeit schreien, kaum Zeit, um zu entschleunigen. Zu ihrer Studenten- und Referendariatszeit gab es die Stunden zwischen den vielen analogen Aktivitäten, um runterzukommen.
Harry Mergel: Das mag so sein. Aber damals wie heute bietet Heilbronn genug Raum und Orte, um zur Ruhe zu kommen und dem stressigen Alltag zu entkommen. Ich jogge immer noch gerne und regelmäßig im Köpfertal oder den Weinbergen, um den Kopf freizubekommen.

Vier-Augen-Gespräch: Harry Mergel in seinem Amtszimmer mit wissensstadt.hn-Redakteur Robert Mucha
wissensstadt.hn: Damals waren Sie und ihr Festival-Team kreativ, beispielsweise beim Booking der Künstler. Wenn man heute in Heilbronn studieren möchte, werden hauptsächlich technische sowie wirtschafts- und management-orientierte Studiengänge angeboten, hinzu kommen in Zukunft KI- und Data Science Angebote. Kreative Studiengänge wird es bis auf Weiteres nicht geben. Eine Komponente, die hier am Bildungscampus noch fehlt, um nicht nur studentisches Leben zu entwickeln, sondern die auch in Richtung Startup- und Gründungskultur wichtige Synergien ergeben würde.
Harry Mergel: Ich bin sicher, dass wir bald sagen können, dass aus Heilbronn die besten Ingenieur*innen, Programmierer*innen und Betriebswirt*innen kommen. Aber in der Tat fehlt noch einiges. Es gibt nahe liegende Ergänzungen, wie Design- und Medienstudiengänge. Darüber hinaus ist mir aber wichtig, dass sich Heilbronn auch zu einer Stadt entwickelt, in der man sich sichtbar Gedanken darüber macht, wie unsere Gesellschaft in Zukunft ethisch, gut und gerecht gestaltet werden kann. Auch wenn ich weiß, dass man nicht alles auf einmal haben kann, ist mir dieser Punkt persönlich wichtig. Deshalb werde ich ihn weiter im Auge behalten.
wissensstadt.hn: Vielleicht kann selbst bei diesen großen gesellschaftlichen Themen in Zukunft KI helfen. Heilbronn hat den Zuschlag bekommen als Standort des KI-Innovationsparks des Landes. Wie sieht ihre KI-Vision für die Stadt aus und welche Bedeutung messen Sie dieser Zusage für die Stadt Heilbronn bei?
Harry Mergel: Das war ein großer, wahrscheinlich historischer Tag für die Wissens- und Zukunftsstadt Heilbronn, als die Zusage kam. Wir sind heute ein starker Wirtschaftsstandort, aber alle Branchen, die uns starkgemacht haben, ob Automobil, Automobilzulieferer, Maschinenbau, Logistik oder Chemie, werden in Zukunft KI brauchen, um zukunfts- und wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber auch in den Bereichen Medizintechnik oder Verkehr und Mobilität wird KI eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung dieser Herausforderungen spielen. Meine Vision für KI aus Heilbronn ist, dass unter anderem hier die Basis für die zukünftige Gestaltung des Lebens gelegt wird.

Kein Science-Fiction-Fan: Harry Mergel erklärt seine Heilbronner KI-Vision
wissensstadt.hn: Was verbinden Sie persönlich mit dem Begriff KI? Sind Sie eher KI-Utopist oder KI-Dystop. Ist sie Heilsbringer für oder Zerstörer der Menschheit?
Harry Mergel: Science-Fiction gehörte nie zu meinen Vorlieben. Deshalb sehe ich auch KI pragmatisch. Sie muss den Menschen helfen, ihnen nützlich sein und das Leben einfacher machen. Dafür muss es klare Normen – auch ethische – geben. KI darf nicht zum Selbstzweck entwickelt werden, sie muss demokratischer Kontrolle unterliegen.
wissensstadt.hn: Das Heilbronner Bewerbungsteam bestand nicht nur aus den lokalen und regionalen Schwergewichten aus Bildung, Forschung und Wirtschaft. Auch Unternehmen aus Stuttgart und der Metropolregion Rhein-Neckar, wie z. B. Porsche und SAP, konnten für die Heilbronner Bewerbung gewonnen werden. Welche Resonanz haben Sie bei ihren Dienstreisen, von Amtskollegen, bei Meetings im Rathaus oder auf der Straße erhalten? Es scheint, als könnten gebündelte Heilbronner Kräfte einiges erreichen …
Harry Mergel: In erster Linie beneiden uns viele um unsere privilegierte Situation, dass Heilbronn als wirtschaftsstarker Standort, eingebettet in diese schöne Landschaft mit dem Neckar als Lebensader mitten in der Stadt, nun auch als Wissensstadt den tertiären Bildungsbereich ausbaut. Ich konnte mir früher nicht vorstellen, dass man einmal in Heilbronn promovieren kann, was heute hier an einer der renommiertesten Universitäten Deutschlands möglich ist.

Geduld bis nach der Bundestagswahl: Dann erklärt Harry Mergel, ob er sich für eine weitere Amtszeit zur Wahl stellen lässt
wissensstadt.hn: Sie haben von KI hauptsächlich im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Transformation gesprochen. Könnte KI aber irgendwann auch bei stadtpolitischen und gesellschaftlichen Fragen helfen? Können Sie sich vorstellen, das Sie oder Oberbürgermeister*innen der Zukunft eine KI fragen, wie man z. B. einer Gentrifizierung entgegenwirkt?
Harry Mergel: Ganz sicher kann ich mir das schnell in Bereichen des Verkehrs und im Gesundheitswesen vorstellen. Dass KIs hier der Stadtverwaltung helfen. Aus meiner Sicht gibt es aber noch zu viele »spielerische« Ansätze, bei denen nicht klar ist, ob und wie sie den Bürgern oder den Kollegen bei der Bewältigung ihrer Arbeit nützen.
wissensstadt.hn: Ein Assistenzroboter, der bei Gemeinderatssitzungen unterstützt …
Harry Mergel: … wir haben im Gemeinderat genügend natürliche Intelligenz, Kompetenz und Weitsicht.
wissensstadt.hn: Und wann gewinnt erstmals eine KI die OB-Wahl in Heilbronn?
Harry Mergel: Ich sage mal: Das könnte ich mir nicht vor 2030 vorstellen. (lacht)
wissensstadt.hn: Das wäre, nachdem Ihre theoretisch zweite Amtsperiode zu Ende wäre – falls Sie im kommenden Jahr nochmals antreten. Treten Sie an?
Harry Mergel: Dazu werde ich mich nach der Bundestagswahl äußern.

Wurzeln eines Überzeugungstäters: Wurde in den 1970ern als Handwerkerkind überzeugter Sozialdemokrat
wissensstadt.hn: KI, TUM, Universitätsstadt, Codingschool, Entrepreneurship, Fraunhofer, etc. sind alles eher bildungselitäre Schlagworte, die der Stadtentwicklung guttun. Wie aber dafür sorgen, dass auch die bildungsfernen und sozial schwachen Bürger*innen an den neuen Heilbronner Bildungs- und Forschungsangeboten partizipieren können und nicht an den (Stadt)Rand gedrängt werden?
Harry Mergel: Ich bin als Handwerkerkind Anfang der 70er Sozialdemokrat geworden – und das hatte seinen Grund. Damals hingen Karrieren in Deutschland noch viel stärker vom Elternhaus ab. Nur sieben Prozent der Arbeiterkinder hatten damals ein Studium angetreten. Ich war hier in Heilbronn auch Bildungsdezernent und bin stolz darauf, dass wir 2007 als erste Stadt in Baden-Württemberg eine kommunale Bildungsplanung gemacht haben. Diese zeigt, wie wichtig der Stadt die frühe Bildung – also die ersten zehn Lebensjahre eines Kindes – sind. Wir erheben keine Kindergartengebühren, weil Kindergärten für uns Bildungseinrichtungen sind. Das spart Familien bis zu 10.000 Euro im Jahr. Wir haben landesweit die höchste Ganztagesbetreuungsquote bei Grundschulkindern. Wir tun, was wir können. Dennoch ist es eine permanente Herausforderung, konstant zu schauen, dass die sozialen Unterschiede nicht größer werden. Wir sehen es als dauerhafte Aufgabe, die Bildungssituation der Heilbronner Kinder mit unseren Mitteln zu ergänzen und sie auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen.
wissensstadt.hn: Würden Sie eine Wette mitgehen bei folgender Vision? »Heilbronn wird bis 2040 die weltweit erste Stadt, die es schafft, dass man an den Bildungskarrieren ihrer Absolventen (Hauptschule bis Habilitation) nicht deren kulturellen und sozialen Background erkennt.«
Harry Mergel: Das klingt nach einer wunderbaren Vision, für die es sich lohnen würde, jeden Tag aufzustehen und zu arbeiten.
wissensstadt.hn: Das Narrativ der »lebenswerten Wissensstadt« könnte eines sein, das Heilbronns USP für die Zukunft trifft. Welche Stärken und Schwächen hat dieses Narrativ für Sie intuitiv?
Harry Mergel: Eine »lebenswerte Wissensstadt« gefällt mir besser als eine »Wissensstadt«. Das klingt zwar nach schönen, gut ausgestatteten Hochschulgebäuden, aber es ist mir zu wenig emotional, der Wohlfühlfaktor kommt mir zu kurz. Ich unterstütze aber, an dem Begriff zu arbeiten. Besonders nach der Zusage als Standort des KI-Innovationsparks des Landes kann ich mir die »Wissensstadt Heilbronn« als Marke sehr gut vorstellen.

Heute ökologischer unterwegs: Sein Sohn soll ihm seinen Irrsin bloß nicht nachmachen
wissensstadt.hn: Die Dieter Schwarz Stiftung geht den nächsten logischen Schritt in der Weiterentwicklung des Bildungscampus und des Forschungsstandorts Heilbronn – Kooperationen mit Universitäten von Weltrang (Oxford, Stanford & Hebrew University) wurden besiegelt. Das ist die Champions League, um ein Fußballbild zu bemühen. Ist Heilbronn als Bildungs- und Forschungsstandort, was die TSG Hoffenheim bzw. RB Leipzig im Fußball sind?
Harry Mergel: Wenn wir den SC Freiburg noch dazu nehmen, der sich durch jahrelange harte und kontinuierliche Arbeit in der höchsten deutschen Spielklasse etabliert hat, gehe ich die Fußballanalogie mit. Sonst würde mir der Vergleich nicht so sehr gefallen. Ich sehe durchaus das Champions League Potenzial. Aber das haben wir nur entwickelt, weil sich die Dieter Schwarz Stiftung im Bildungsbereich so stark engagiert. Ich hoffe, dieses Privileg, das wir dadurch genießen, wird in der Stadt bei unseren Bürger*innen auch als solches wahrgenommen.
wissensstadt.hn: Traditionalisten im Fußball (z. B. Kaiserslautern, HSV, Werder, etc.) kritisieren diese Klubs (Hoffenheim, Leipzig), während sie von diesen rasend schnell überholt werden. Hoffenheim- und Leipzig-Fans entgegnen, dass Tradition keine Titel gewinnt. Könnte man diese Fußballanalogie auch auf den Bildungs- und Forschungssektor übertragen und den kritischen Bildungstraditionalisten entgegnen, dass eben Tradition keine Nobelpreise gewinnt?
Harry Mergel: Ich würde es tunlichst unterlassen, dass wir uns mit traditionellen Universitätsstädten wie Freiburg, Heidelberg oder Tübingen vergleichen. Wir sollten unsere Kraft darauf ausrichten, dass wir die Universitätsstadt der Zukunft sind, in der die Verbindungen und Netzwerke zwischen Wissenschaft, Forschung, Entwicklung und den Unternehmen in der Region bestehen und eng geknüpft sind. Dadurch kann in Heilbronn eine besondere Innovationskraft und -freude entstehen.
wissensstadt.hn: Abschließend: Angenommen, ihr Sohn würde ca. 250 km entfernt von Heilbronn ein Praktikum absolvieren und ihm käme tägliches Pendeln zwischen Heilbronn und Arbeitsplatz in den Sinn: Was würden Sie ihrem Sohn entgegnen? Gute Idee oder eher nicht?
Harry Mergel: Ich würde ihm raten, nicht denselben Irrsinn wie sein Vater zu betreiben. Aber auf die Idee käme er zum Glück nicht. (lacht)