Bürger-uni: Wie Unternehmen im Silicon Valley die Medizin neu erfinden

Organe aus dem 3D-Drucker sind nur der Anfang: Große Technik-Unternehmen wie Google, aber auch Start-ups entwickeln neuartige Therapien in der Medizin. “Spiegel”-Redakteur Thomas Schulz gab bei der Bürger-Uni einen Einblick, was das für die Menschheit bedeutet.

Von Lisa Könnecke (Heilbronner Stimme), Foto: HSt

Alterungsprozesse aufhalten, Organe aus dem 3D-Drucker herstellen, einen Herzinfarkt erkennen, bevor er auftritt, oder Alzheimer heilen. Was utopisch klingen mag, ist teilweise schon Realität, wie Thomas Schulz am Donnerstagabend bei der Bürger-Uni in der Aula auf dem Bildungscampus der Dieter-Schwarz-Stiftung aufzeigte.

Der “Spiegel”-Redakteur und Buchautor war viele Jahre als Korrespondent in den USA tätig, unter anderem in San Francisco, um dort die Spiegel-Redaktionsvertretung im Silicon Valley aufzubauen. Den Zuschauern, die coronabedingt per Livestream zugeschaltet waren, gewährte er Einblick in die Neuerfindung der Medizin, die ihren Ursprung im Süden der USA, dem Silicon Valley, zu haben scheint.

Technologien, die nach Science-Fiction klingen

Technik-Riesen wie Google, Amazon oder Microsoft, aber auch Start-ups entwickeln in den USA mithilfe von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Unmengen an Daten Therapien, die laut Thomas Schulz wie Science-Fiction klingen, aber die die Menschheit wie “eine Welle der Erkenntnis” nach vorne katapultieren.

Zur Veranschaulichung erzählte Schulz von einem Besuch 2014 bei einem kleinen Unternehmen in der Nähe von Boston, das ihm eine Technologie vorstellte, “die sich verrückt anhörte”. Sie sollte durch eine Programmierung der Zellen den menschlichen Körper dazu bringen, zu seiner eigenen Medikamentenfabrik zu werden.

“Wilder Kram”, “utopisch” oder: “Vielleicht wird in 30 Jahren etwas dabei rauskommen” – das waren Rückmeldungen, die der Journalist bekam, wenn er anderen davon erzählte. Jenes Unternehmen, das er damals besuchte, ist heute bekannt als Moderna. “Und die Technologie, die mir vorgestellt wurde, war die mRNA-Technologie, also die, die uns, salopp gesagt, dieses Jahr den Hintern gerettet hat”, so Thomas Schulz mit Blick auf die Corona-Impfstoffe.

Entwicklungen, die keiner voraussagen kann

Viel wichtiger aber als die Tatsache, dass sich die Technologie so verrückt angehört habe und nicht viele daran geglaubt hätten, findet Schulz die Tatsache, dass sie so schnell zum Einsatz gekommen ist. Im Moment erlebe man eine Beschleunigung in der Medizin.

Der Journalist macht das nicht nur an den rund 8,7 Billionen Dollar fest, welche die globale Gesundheitsbranche ausmachen, sondern vor allem an dem Zusammenspiel von unterschiedlichen Bereichen wie Robotik, Informatik oder Chemie, das am Ende zu Entwicklungssprüngen führte. Das größte Ziel jeder Technologie sei, das Leben der Menschen möglichst länger und gesünder zu machen. Angefangen bei Krebs, eine Krankheit, die oftmals immer noch zu spät entdeckt werde. Ein Unternehmen, das das ändern will, heißt Grail. Schulz erklärte, das es an einer Blutbild-Technologie forscht, die hilft, Krebs frühzeitig zu entdecken.

Seit Jahrzehnten gebe es die medizinische Erkenntnis, dass Tumore im Blut Bestandteile absondern, die man finden kann, bevor der Mensch erkrankt oder Symptome zeigt. Das Ziel sei, durch ein routinemäßiges Blutbild jeden darauf zu testen. Jedoch gleiche das Vorhaben einer “riesigen Rechenaufgabe”. Allein für eine einzige Blutprobe brauche es zwei Terabyte an Daten, so viel wie eine ganze Laptop-Festplatte. “Deswegen stehen bei Grail keine Biologen oder Chemiker, die pipettieren, sondern riesige Server.” Vor allem Informatiker arbeiten dort.

Unternehmen, die mit Big Data umgehen können

An vielen weiteren Beispielen machte Thomas Schulz in seinem Vortrag deutlich, wie Google, Amazon und Co., aber auch Start-ups, die mit großen Mengen an Daten umgehen können, im Begriff sind, die Medizin neu zu erfinden. Das sei auch der Grund, warum fast alle großen Krankenhaus-Ketten in den USA Verträge mit Technik-Riesen abgeschlossen hätten. Viele anonymisierte Patientendaten seien die Voraussetzung dafür, weil Maschinen sie brauchen, um daraus Diagnose-Instrumente zu entwickeln.

Teilweise, erklärte Schulz, würden in gut ausgestatteten Kliniken in den USA bereits Maschinen zum Einsatz kommen, die beispielsweise bis zu 36 Stunden vorher erkennen könnten, ob dem Patienten ein Herzinfarkt droht. “Es gibt Hoffnungen in Bereichen, in denen es lange keine Hoffnung gegeben hat.” Vieles sei in Bewegung geraten und nur möglich, weil große Datenmengen, ob neue oder alte, nutzbar werden, so der “Spiegel”-Redakteur.

Gen-Baby wirft moralische Fragen auf

Vor allem mit Blick auf Technologien, die es ermöglichen, in die menschliche DNA einzugreifen, sieht Schulz aber auch Nachteile. Bis man entscheiden könne, dass die eigenen Kinder immer blaue Augen haben sollen, sei es nicht mehr weit. Die Frage nach dem Designer-Baby habe zwar schon in den 1990er Jahren eine philosophische und ethische Debatte ausgelöst, die aber immer auf der Grundlage von Theorie verlief. “Jetzt sind wir schon in der Praxis angekommen”, sagte der Journalist in Bezug auf die Genschere Crispr, die es ermöglicht, Gene gezielt zu bearbeiten und damit tief in die menschliche Biologie einzugreifen.

Unvorhersehbare Entwicklungen

Die Mitentdeckerin dieser Genschere, Jennifer Doudna, “war eine der spannendsten Menschen, die ich je getroffen habe”, so Thomas Schulz. 2015, bei einem seiner ersten Treffen mit der Biochemikerin, sagte sie der Crispr-Technologie zwar eine große Zukunft voraus, schätzte aber, dass es wohl um die 20 Jahre dauern würde, bis sie zum Einsatz am Menschen kommen würde – angesichts der Tatsache, dass Crispr bald als Therapeutikum gegen viele Krankheiten zum Einsatz kommen soll, eine Fehlprognose. “Das heißt, dass die führende Expertin auf diesem Gebiet, die seit Jahrzehnten dort unterwegs ist, sich trotzdem um 15 Jahre vertut, wie schnell eine neue Technologie heranreifen kann. Die Entwicklungen sind einfach zu schnell.«

Auf die Frage von Stimme-Moderator Tobias Wieland, was die Einblicke im Silicon Valley mit ihm persönlich machen, entgegnete Schulz, dass er auf der einen Seite viel optimistischer sei, was etwa Krankheiten angeht, ihn auf der anderen Seite aber das Tempo nachdenklich stimme, das so hoch und kompliziert sei, dass selbst Experten nicht mehr mithalten könnten. Facebook habe er nicht mehr.

“Das klingt wie ein Klischee, aber es gibt Unternehmen, wo man schnell merkt, dass irgendwas nicht ganz gerade ist, wenn man dort viel Zeit verbringt.” Dennoch blickt Thomas Schulz optimistisch in die Zukunft. In den letzten Jahren habe sich unfassbar viel getan, was allen Anlass zur Hoffnung gebe. Ob man 140 werden will, darüber könne man diskutieren. “Aber mit 90 Jahren noch gesund und fit zu sein und keine Arthrose im Knie zu haben, fände ich als passionierter Tennisspieler schön.”