Interview mit Tatjana Linke, Leiterin der aim-Akademie in Heilbronn
Interview: Robert Mucha, Fotos: Nico Kurth
Tatjana Linke ist leidenschaftliche Leiterin der aim-Akademie in Heilbronn. Wir sprachen mit der Geschäftsführerin der Akademie für Innovative Bildung und Management über die nachjustierte Vision der Bildungseinrichtung, Linke erklärte uns die Ziele ihres Teams und sie sprach über die Kreativität der Sprachförderkräfte in Zeiten von pandemiebedingtem digitalen Fernunterricht.
wissensstadt.hn: Erst durch die aim-Akademie bekommt der Slogan »Lebenslanges Lernen« auf dem Bildungscampus seine Berechtigung. Die aim kümmert sich von den jüngsten (z. B. Sprach- und Matheförderprogramme für Grundschüler) bis hin zur Weiterbildung von auch älteren Semestern, die in pädagogischen Berufen arbeiten, – kann man das so sagen?
Tatjana Linke: Wir sind neben der Erzieherakademie diejenigen, die wirklich ganz früh an der Basis anfangen. Unser Fokus liegt bei Kindern und Jugendlichen von deren Geburt bis zum Eintritt ins Berufsleben oder ins Studium. Das ist unsere eigentliche Zielgruppe, deren Bildungschancen wir verbessern wollen. Die Erwachsenen, wie beispielsweise Erzieher und Lehrer, für die wir Angebote haben, sind diejenigen, die dafür sorgen, dass die Kinder und Jugendlichen entsprechend Unterstützung bekommen.
wissensstadt.hn: Wie viele Teilnehmer*innen über alle Altersgrenzen hinweg bildet die aim-Akademie hier pro Jahr aus und fort?
Tatjana Linke: Vor der Pandemie haben 2019 ungefähr 60.000 Teilnehmer*innen unsere Angebote wahrgenommen – vom kurzen Vortrag bis hin zu langfristig angelegten Lehrgängen.
wissensstadt.hn: Können Sie Beispiele für Lehrgänge geben?
Tatjana Linke: Lehrgänge sind zum Beispiel entwickelt worden zum Thema Sprachbildung im Kindergarten, wir bieten Management-Lehrgänge für Leitungskräfte in Kindertageseinrichtungen an und natürlich auch für Schulleitungen. Wir haben den Vorteil, dass wir langfristig arbeiten können. Und man muss in der Pädagogik sehr langfristig denken. Wir haben uns so aufgestellt, dass wir sehr flexibel sind, und wir haben den Vorteil, dass wir das Geld nicht verdienen müssen, was wir für unsere Qualifizierungsmaßnahmen aufwenden.

Engagierte Leiterin der aim-Akademie Heilbronn: Tatjana Linke
wissensstadt.hn: Welche konkreten Ziele verfolgt die aim-Akademie?
Tatjana Linke: Alles, was wir tun, lässt sich unter drei große Überschriften zusammenfassen. Das ist erstens das Thema nachhaltige Sicherung pädagogischer Qualität in Kindergarten und Schule. Es geht hierbei darum, das pädagogische Personal zu qualifizieren, aber auch für die Institutionen und Einrichtungen zum Beispiel Prozessbegleitung anzubieten. Wenn eine Schule sich entscheidet, Ganztagsschule zu werden, gibt es die Möglichkeit, von unseren Dozent*innen über einen längeren Zeitraum eine Unterstützung zu bekommen. Zweitens geht es uns um Sprachbildung und Sprachentwicklung entlang der Bildungsbiografie, von der Krippe bis zum Eintritt ins Berufsleben oder ins Studium. Wir bieten Erzieherfortbildungen, Krippenpädagogen-Fortbildungen an und für diejenigen, die in die Ausbildung gehen oder die ein Studium aufnehmen wollen und einfach nicht genug deutsche Sprachkenntnisse mitbringen, bieten wir Sprachkurse an. Drittens: Wir möchten Kompetenzen vermitteln für das Lernen, Lehren, Leben und Arbeiten in der digitalen Welt. Ein ganz großer Teil dafür ist eine gute Allgemeinbildung, die man braucht und Kompetenzen wie Selbstorganisation, Selbstmotivation oder ein positives Konzept vom eigenen Lernen. Wir glauben, dass jemand, der nicht in der Lage ist, sich aufzuraffen, sich hinzusetzen, tatsächlich an einem Thema dran zu bleiben und sich durch dieses durchzubeißen nicht wirklich von den Möglichkeiten des digitalen Lernens profitieren wird. Insofern ist es eine Riesenchance, aber auch ein großes Risiko für diejenigen, die nicht diese Handlungskompetenz und diese Persönlichkeitsstruktur mitbringen, um davon zu profitieren.
wissensstadt.hn: Wo finden Sie und ihr Team innovative pädagogische Projekte, die von der aim-Akademie aufgenommen und umgesetzt werden? Wer flexibel ist, braucht schließlich auch dementsprechende Aufgaben und Herausforderungen.
Tatjana Linke: Wir pflegen gute Kontakte zu Hochschulen und zu anderen Stiftungen und suchen aktiv nach diesen innovativen Konzepten, die neuartig sind und die in der Regel von der Bildungsadministration nicht einfach so umzusetzen sind – weil oft auch ein Stück Qualifizierung fehlt. Es gibt Handbücher und tolle Broschüren, aber damit können Erzieher*innen und Lehrer*innen in der Praxis nichts anfangen. Sie dafür zu qualifizieren, das haben wir uns zur Aufgabe gemacht. Wir haben am Anfang unseres Schaffens wirklich nach diesen Konzepten gesucht. Inzwischen können wir uns kaum retten, weil sich unsere Arbeit rumgesprochen hat. Es gibt viele Hochschulen und Stiftungen, die Konzepte entwickelt haben und jemanden suchen, der das ausprobiert, weiterentwickelt, zeigt, wie es gehen kann. Das ist die Nische, die wir für uns gefunden und definiert haben.

Drei Kernziele hat Tatjana Linke mit der aim-Akademie: 1.) Nachhaltige Sicherung pädagogischer Qualität in Kindergarten und Schule, 2.) Sprachbildung und Sprachentwicklung entlang der Bildungsbiografie, von der Krippe bis zum Eintritt ins Berufsleben oder ins Studium und 3.) Kompetenzvermittlung für das Lernen, Lehren, Leben und Arbeiten in der digitalen Welt
wissensstadt.hn: Werden bei ihnen auch »in house« Ideen und Konzepte ausgedacht?
Tatjana Linke: Beim Thema Sprachbildung und Sprachförderung zum Beispiel, das uns sehr wichtig ist, ist inzwischen eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem MAZEM, dem Mannheimer Zentrum für Empirische Mehrsprachigkeitsforschung , das uns wissenschaftlich begleitet, entstanden. Wir entwickeln auch gemeinsam neue Projektideen und etablierte Konzepte werden weiterentwickelt.
wissensstadt.hn: Eines der wichtigsten Projekte der aim-Akademie ist »Sprache fürs Leben« …
Tatjana Linke: Dieses Programm haben wir vor 14 Jahren entwickelt – es war übrigens mein erstes Projekt hier. Wir haben sehr basal überlegt, was Kinder im Grundschulalter brauchen, die nicht die Chance hatten, Deutsch als Muttersprache zu lernen. Unsere Antwort war und ist: Sie brauchen Zuwendung, sie brauchen jemanden, dem sie sich öffnen können und eine vertraute Umgebung. Wir haben dann mit zwei bis sechs Kindern Sprachfördergruppen gebildet und Sprachförderkräfte, die wir ausbilden und fortbilden und die von uns freiberuflich eingesetzt und beschäftigt werden, an Schulen etabliert. Diese Kinder werden dann entweder in den Stunden vor, zwischen oder nach dem Unterricht von dieser Sprachförderkraft gefördert, und zwar alltagsbezogen. Es gibt keine Hausaufgaben. Wir wollen einfach, dass die Kinder zum Sprechen angeregt werden, dass sie sich trauen, dass sie sich wohlfühlen, dass sie Sprachanlässe bekommen und sich mit Themen beschäftigen können, die ihnen Spaß machen. Sie spielen natürlich auch und machen Unternehmungen, wie beispielsweise Konzertbesuche oder es finden Veranstaltungen mit Kinderbuchautoren statt. Diese Sprachförderung findet im Prinzip so lange statt, bis die Kinder in der Lage sind, am Ende der Grundschule den Weg auf die weiterführende Schule zu gehen, die für sie der Richtige ist und sie nicht durch die mangelnde Sprachkompetenz behindert werden. Angefangen hat das Programm mit drei Schulen in Heilbronn, inzwischen nehmen ungefähr 180 Schulen teil, 400 Sprachförderkräfte sind im Einsatz und zigtausende Kinder pro Jahr durchlaufen die Sprachförderung. In den aktuellen Corona-Zeiten ist das sicher ein bisschen zurückgegangen. Aber die Sprachförderkräfte haben sich unglaublich kreative Lösungen ausgedacht, wie man z. B. mit Handpuppen und mit kleinen Videos eine Eins-zu-Eins-Begleitungen anbieten und über digitale Medien mit den Kindern Kontakt halten kann. Es ist sehr wichtig, dass die Kinder ihre Bezugsperson nicht verlieren.
wissensstadt.hn: Können auch Krippen und Kindergärten an »Sprache fürs Leben« teilnehmen?
Tatjana Linke: An den Kindergärten wird dieses Programm noch nicht durchgeführt. Allerdings läuft aktuell ein Pilotprojekt mit dem MAZEM. Denn die Frage ist berechtigt: Warum haben wir erst in der Grundschule diese Art der Sprachförderung? Wissenschaftlich ist nachgewiesen, dass der Erwerb einer Sprache ungefähr sechs Jahre dauert. Das kann man nicht beliebig abkürzen. Deshalb haben wir jetzt ein Projekt gestartet, in dem im letzten Kindergartenjahr mit der Sprachförderung begonnen wird und dieselben Sprachförderkräfte das Kind nachher in der Grundschule begleiten – das ist sehr wichtig. Das heißt, die Kinder haben auch einen vertrauten Übergang vom Kindergarten in die Grundschule.

Tatjana Linke in ihrem natürlichen Habitat – das aim-Akademie.
wissensstadt.hn: Die aim-Akademie ist schon länger hier am Platz. Inzwischen tummeln sich viele Bildungs- und Forschungseinrichtungen in der Nachbarschaft am Heilbronner Bildungscampus. Wie nehmen Sie dieses vielfältige Bildungsangebot für ihre Arbeit und die Arbeit ihrer Mitarbeiter wahr? Ist es relevant, inspirierend oder Impuls gebend? Oder ist das Angebot der aim-Akademie so spezifisch, dass es zu wenig Schnittmengen mit der TUM oder beispielsweise dem Fraunhofer Institut gibt?
Tatjana Linke: Mit dem Fraunhofer Institut gibt es im Moment sicher weniger Berührungspunkte als mit anderen Institutionen. Aber da man hier am Campus mit vielen unterschiedlichen Menschen ins Gespräch kommt, entdeckt man, dass man bei ähnlichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven losgeht. Das ist spannend und es ist demnach eine inspirierende Umgebung hier am Bildungscampus. Wir haben schon von Beginn an eine enge Kooperation mit der Hochschule Heilbronn, der DHBW Heilbronn und mit der Erzieherakademie, mit der wir viele Gemeinsamkeiten haben. Es ist aber natürlich so, dass wir uns schwerpunktmäßig am unteren Ende der Bildungsbiografie bewegen.
wissensstadt.hn: Die dynamische Entwicklung hier am Campus hat der Stadtentwicklung also nicht geschadet?
Tatjana Linke: Durch den Campus hat sich in der Umgebung sehr vieles verändert, auch für mich persönlich. Ich komme ursprünglich nicht aus der Gegend, bin in Bonn gewesen und von dort hierher gezogen. Damals habe ich einen kleinen Kulturschock bekommen. Das ist heute ganz anders, weil die Stadt viel offener geworden ist. Und ich glaube, das tut ihr auch gut: Diese Mischung zu haben von unterschiedlichen Personen mit diversesten Zielsetzungen. Natürlich geht es immer um Bildung, aber trotzdem haben die Menschen, die hier arbeiten, manigfaltige Schwerpunkte.

AHA-Regeln: Tatjana Linke und Robert Mucha unterhielten sich trotz Coronaabstand angeregt über die Vision der aim-Akademie
wissensstadt.hn: Die Vision der aim-Akademie lautet »Alle Kinder und Jugendlichen nutzen ihre Bildungschancen«. Bei welcher Prozentzahl befindet sich Heilbronn bezogen auf die Vision gerade? Wie viele Kids und Jugendliche nutzen die Bildungschancen, die ergriffen werden können?
Tatjana Linke: Es ist eine Vision. Wir haben vor zwei Jahren eine Bildungskonferenz durchgeführt. Es ging ganz allgemein um die Bedeutung des Themas Bildung. Vorher hatten wir unsere Vision ein bisschen anders formuliert. Wir wollten dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen gute Bildungschancen haben. Wir haben geglaubt, wir müssten Bildungschancen schaffen. Es hat sich für uns dann herauskristallisiert, dass es in Deutschland sehr viele Bildungschancen gibt, daran mangelt es nicht. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann man diese Bildungschancen nutzbar machen? Wie können wir dazu beitragen, dass jemand wirklich genug Deutsch kann, um tatsächlich z. B. ein Gymnasium zu besuchen? Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Übergang auf eine weiterführende Schule zu schaffen, benötigen eine langfristige Unterstützung.

Tatjana Linke sieht optimistisch in die Zukunft
wissensstadt.hn: Frau Linke, vielen Dank für das Gespräch.
Tatjana Linke: Sehr gerne.